Was sind die häufigsten Vorfäl- le, mit denen Sie es aktuell zu tun haben? GRAAF: Es sind in der Regel Bedrohun- gen und Beleidigungen. SCHALLENBERG: Das ist auch so ein bisschen die Entwicklung in der Ge- sellschaft. Das größte Thema sind da- her verbale Entgleisungen. Die Spra- che verroht und das bemerken die Kolleginnen und Kollegen sehr stark. Wie sind die Abläufe nach einem Vorfall? SCHALLENBERG: Es gibt zwei Arten der Verletzung: die körperliche und die seelische. Für die körperlichen Ver- letzungen gibt es seit vielen Jahren Ersthelfende. Es gibt vorgegebene Prozentsätze für den Anteil der Ersthel- fenden an der Belegschaft, die man er- füllen muss, da liegen wir immer da- rüber. Da sind wir sehr stolz auf die Kolleginnen und Kollegen, dass sie das als wichtige Aufgabe identifiziert haben und sich dafür zur Verfügung stellen. Seit einigen Jahren haben wir auch ein gutes Netzwerk ausgebildet, das wir regelmäßig fortbilden als psycho- logische Ersthelfende. Wir haben 14 Kolleginnen und Kollegen quer durch die Städteregion verteilt, die bei uns zentral abgerufen werden können. Die psychologischen Ersthelfen-den wer- den aber überraschend wenig in An- spruch genommen, das ist auch Teil der Wahrheit. Wir bieten Hilfe an, aber zwingen diese nicht auf. Gibt es da vielleicht auch Hemm- schwellen? SCHALLENBERG: Ja, es scheint so. Einen Verband nehmen viele gern. Aber sich einzugestehen, dass sie etwas psy- chisch so belastet, dass sie ein Hilfs- angebot wahrnehmen möchten, dabei zögern die meisten. Oft stehen die Be- troffenen dann drei Wochen später da und benötigen therapeutische Unter- stützung. Wir achten daher sehr stark darauf, immer eine Unfallanzeige aus- zufüllen. Hier hat sich viel verbessert, dass auch psychische Belastungen eben als „Verletzung“ wahrgenom- men werden. T I T E LT H E M A „Es gibt kein Patentrezept, sondern wir müssen lernen, die Organisation so agil aufzustellen, dass wir immer schneller und flexibler werden.“ Stefan Graaf, Geschäftsführer Jobcenter StädteRegion Aachen Wie schätzen Sie heute die Lage bezüglich der Belastungssituation ein? Hat sich bei diesen Punkten etwas verändert? GRAAF: Ich glaube, die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit ist erkennbar. Es wurde in Corona-Zeiten sehr wichtig zu er- kennen, wie existenziell die Aufgabe eines Jobcenters als Garant der sozia- len Sicherung ist. Leider ist das Sys- tem immer noch komplex und kom- pliziert. Das wiederum belastet viele Kolleginnen und Kollegen, denn man will ja nichts falsch machen. SCHALLENBERG: Eine Sache kann ich da noch ergänzen: Wir erleben auf- grund der veränderten Kundenstruk- tur im Bereich der Sprachbarrie- ren auch eine verstärkte Belastung. Denn überall, wo eine Sprachbarrie- re besteht, führt das einfach zu einem zeitlichen Mehraufwand für die Kolle- ginnen und Kollegen, beispielsweise durch den Einsatz von Dolmetscherin- nen und Dolmetschern. Welche Ansätze haben Sie in dem Bereich? SCHALLENBERG: In der psychischen Prophylaxe machen wir beispiels- weise alle fünf Jahre eine Umfrage zu den psychischen Belastungen am Arbeitsplatz. Bei Stressvorbeugung und Prophylaxe gegenüber Belas- tungssituationen gibt es mittlerweile ein umfangreiches Seminarangebot, das darauf abzielt, wie man mit Stress besser umgeht. GRAAF: Wir schulen sehr viel, auch die Führungskräfte, um überhaupt erst- mal die Belastungen zu erkennen. Stille Schreie kann man nur hören, wenn man entsprechend geschult ist. Da sind wir aber auch immer noch ler- nend und suchend unterwegs. Das ist für mich ein absolutes Lernfeld, weil es sich weiterentwickelt. Was sind für Sie die notwendigen Schritte, um psychische Gesund- heit in der Arbeitswelt weiter zu stärken? Was müssen wir alle tun? GRAAF: Man muss das Thema wei- ter als Führungsthema identifizieren und dann in all seinen Facetten im- mer sensibel sein. Und sich mit Kol- leginnen und Kollegen hinsetzen und überlegen, wie wir jetzt auch auf La- geentwicklungen reagieren können. Dadurch, dass die Welt so schnellle- big geworden ist, gibt es kein Patent- rezept, sondern wir müssen lernen, die Organisation so agil aufzustellen, dass wir immer schneller und flexib- ler werden. Das neue Mindset „Das Glas ist halbvoll und nicht halbleer“? SCHALLENBERG: Ja, nicht immer nur auf das Negative gucken. Herr Graaf hat- te mal auf einer Mitarbeiterversamm- lung gesagt, wir reden so viel über die 3 Prozent unserer schwierigen Kundin- nen und Kunden, aber wir haben doch 97 Prozent, die gut mitmachen und un- auffällig sind – über die reden wir nie. GRAAF: Darauf sollten wir insgesamt stärker den Fokus setzen, das Positi- ve auch immer wieder zu erwähnen. Sonst ziehen wir uns alle in einer Ab- wärtsspirale nach unten. UVB.dialog 3 | 2024 13